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PolitikTürkei

Türkei in der NATO: Die unberechenbare Nummer Zwei

20. April 2024

Das Land mit der zweitgrößten Armee der NATO wird aufgrund seiner Alleingänge oft von seinen Bündnispartnern kritisiert. Doch die Türkei und die NATO sind trotz ihrer vielen Differenzen füreinander unverzichtbar.

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Türkische Fahne, NATO-Logo
Die Türkei hat nach den USA die zweitgrößte Armee des BündnissesBild: Francois Lenoir/REUTERS

"Nicht schwarz oder weiß - sondern in einem Graubereich befindet sich das Verhältnis zwischen der Türkei und der NATO." Mit diesen Worten schildert die Politikwissenschaftlerin Selin Nasi von der London School of Economics and Political Science die Rolle Ankaras im nordatlantischen Bündnis.

Die Tatsache, dass die Türkei gute Beziehungen zu Russland und China pflegt, führte in den letzten Jahren sogar dazu, dass die Loyalität Ankaras gegenüber der NATO hinterfragt wurde. Die vielen Alleingänge der Türkei - wie die militärische Intervention in Nordsyrien 2018 oder die Blockade der Beitritte Finnlands und Schwedens - lösten im Westen Debatten darüber aus, ob die Türkei wirklich zum Bündnis gehöre oder nicht.

Die zweitgrößte Armee

Seine traditionelle Neutralität musste die Türkei - wie viele andere Staaten auch - nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der russischen Bedrohung aufgeben: Als Stalin türkische Territorien für sich beanspruchte, suchte Ankara Schutz bei der NATO und wurde 1952 Mitglied.

"Die Türkei ist ein Land von beispielloser Bedeutung für die Allianz", erklärt Zaur Gasimov von der Universität Mainz. Die Türkei hat nach den USA die zweitgrößte Armee des Bündnisses, sichert die Südostflanke Europas und ist Heimat von zwei bedeutenden NATO-Luftwaffenstützpunkten: Incirlik und Konya.

"Die türkischen Streitkräfte sind eine der wenigen Armeen in der NATO, die eine unmittelbare Gefechtserfahrung haben. Die Türkei wird auch ein immer stärkerer Partner durch eigene militärwissenschaftliche Technologien. Das ist etwas, was bei den westlichen NATO-Ländern inzwischen sehr intensiv rezipiert wird", so Gasimov.

Ein globaler Trend

Ankara ist dafür bekannt, immer wieder einen eigenen Weg zu gehen - was die Frage aufwirft: Sind diese Alleingänge mit ihrer NATO-Mitgliedschaft vereinbar?

Ja, glauben die von der DW befragten Experten - denn sie bewegen sich im Rahmen eines globalen Trends.

"Strategische Autonomie ist ein Begriff, der Ankara sehr gut gefällt. Die Realität ist, dass die Türkei in den letzten Jahren außenpolitisch zunehmend unabhängiger geworden ist. Das wird sich fortsetzen", so Nasi. "Die Türkei ist nicht das einzige Land, das zunehmend eigenständig entscheidet. Das ist ein Ergebnis des globalen Wandels und der Machtverschiebung vom Westen in Richtung Osten. Deswegen gilt diese Tatsache für alle Verbündeten der USA", erklärt sie.

Gasimov beobachtet eine "Emanzipierung" in der türkischen Außenpolitik seit zwei Jahrzehnten - die "Entweder-Oder"-Zeiten des Kalten Krieges seien vorbei: "Die Dynamik in den internationalen Beziehungen zeugt davon, dass eher in hybriden Kategorien gedacht wird. Die Türkei kann neben einer aktiven NATO-Mitgliedschaft auch die Kooperation mit Russland weiter vertiefen. Ich sehe keine Anzeichen, dass das nicht funktionieren sollte."

Nasi betont, dass der Westen eigentlich von den guten Beziehungen der Türkei zu Russland profitiere, obwohl diese kritisiert würden. "Man muss auch mit denjenigen kommunizieren, die man nicht mag. Dafür braucht man Vermittler. Das auch für Europa wichtige Getreideabkommen kam zustande dank der Türkei", so Nasi.

Präsident Erdogan vor einem NATO-Logo
Beobachtern zufolge entscheidet Erdogan inzwischen "alles" in der TürkeiBild: Yves Herman/REUTERS

Erdogans Rolle

Jedoch spiele die Art der Kommunikation eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Türkei als Verbündeter. "Die Debatte um den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands hat die türkische Seite sehr problematisch geführt", kritisiert Nasi. "Am Ende wurde der Eindruck erweckt, als sei die Türkei ein Land, das jede außenpolitische Angelegenheit als Verhandlungsmaterial sehe." Nasi sieht darin eines der größten Probleme für die Zusammenarbeit. "Es handelt sich hier um eine unberechenbare Regierung."

Dieses Problem habe wiederum mit der Machtkonzentration innerhalb der Türkei zu tun. "Die außenpolitische Entscheidungsfindung wurde inzwischen auf Erdogan und eine Handvoll Berater reduziert. An dem Punkt, wo wir uns jetzt befinden, entscheidet Erdogan alles", erklärt sie.

Keine Trennung am Horizont

In den vergangenen Jahren wurden sogar - nicht zuletzt in den sozialen Medien - Stimmen laut, man solle die Türkei aus der NATO ausschließen. Auch in der Türkei selbst wird die NATO-Mitgliedschaft nicht mehr als alternativlos betrachtet. Erdogan liebäugelte mehrmals mit einer Mitgliedschaft in der von China und Russland angeführten "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" (SCO). Diese hat laut Experten unter anderem das Ziel, den Einfluss der NATO einzudämmen.

Das Familienfoto der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan, mehrere Regierungsvertreter in einem Bild
Die Türkei ist momentan "Dialogpartner" der Shanghaier Organisation für ZusammenarbeitBild: Sergei Bobylev/AP/picture alliance

Die Londoner Politologin Nasi hält dagegen. "Es wäre für keine der beiden Seiten von Interesse, wenn die Türkei die NATO verlassen würde. In der Praxis distanziert sich die Türkei aber auch gar nicht von der NATO. Sie erfüllt alle ihren Aufgaben als Verbündete", sagt Nasi. Und führt daneben noch einen ganz praktischen Grund an: "Alle Verteidigungssysteme der Türkei sind ausschließlich mit der NATO kompatibel. Alle Waffen, Rüstungsgüter, Flugzeuge. Die Türkei ist komplett in die NATO integriert. Wir normale Menschen haben ja schon Schwierigkeiten damit, unser Handy von iPhone zu Android zu wechseln. Sie können auf Verteidigungsebene nicht einfach ein ganzes System ändern."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.